Die Planung

von Reike

Irgendwann, als unser Fernweh längst immer drängender geworden war, fassten wir den Beschluss: Wir würden reisen. Jetzt.

Wenn man irgendwann auf dem Sterbebett liegt, woran wird man wohl denken? Ein sehr abstrakter Gedanke, in der Mitte seines Lebens stehend. An die Liebe, die man gegeben und empfangen hat? An die Leben, die man gezeugt und berührt hat? An die Reisen, die man unternommen hat? Eines aber wird die Gedanken des Sterbenden wohl nicht erfüllen – der Rückblick auf die x-te Überstunde, das x-te Meeting, die x-te Gehaltserhöhung.

Unsere Gesellschaft hat eine recht klare Vorstellung davon, wie ein Leben zu leben ist. Geburt – Schule – Ausbildung oder Studium – Arbeit – Rente (wenn man Glück hat) – Tod. Mehrere Arbeitgeberwechsel während eines Berufslebens waren vor wenigen Jahrzehnten noch ein Makel, heute sind sie Notwendigkeit. Unterbrechungen in den einzelnen Berufsstationen sind heute noch vergleichbare Makel. In wenigen Jahren aber werden sie normal sein. Warum? Da die stetig steigende Technisierung, und die zunehmende Veränderungsgeschwindkeit in der globalen Gesellschaft mit ihren Anforderungen an die Leistungsfähigkeit des einzelnen noch keine Antwort darauf gefunden hat, wie ein Mensch bei alledem Mensch bleibt, muss er gelegentlich ausbrechen. Unfreiwillig (Burn-out etc.) oder freiwillig. Der freiwillige, gelegentliche Ausbruch benötigt aber ein Bewusstsein darüber, was mit einem geschieht. Und den mündigen Gestaltungswillen über das eigene Leben. Zur Not auch entgegen dem gesamtgesellschaftlichen Konsens. In meinem Büro habe ich ein Spruch-Kärtchen hängen, auf dem steht: „“Und hier, die Lücke in Ihrem Lebenslauf?“ „Ja, war geil!““. Immerhin bin ich unter anderem für Einstellungen unserer Firma zuständig, womit das Kärtchen schon für den ein oder anderen Schmunzler gesorgt hat.

Neulich hat ein guter Freund dieses Buchzitat mit mir geteilt:

„Je gewaltiger und sprunghafter die Entwicklung der Technik fortschreitet, je mehr sie unser Leben beherrscht, ohne dass wir sie heute schon mit innerer Ausgeglichenheit zu meistern verstehen, desto stärker ist bei vielen Menschen die Sehnsucht, wieder den großen Rhythmus der Natur zu spüren. Je mehr der Mensch vorwärts strebt und sich dabei oft in tragische Konflikte verwickelt, desto größer wird der Kontras zu den anderen Geschöpfen, deren Leben heute genauso wie vor tausenden von Jahren im Fluss der Zeit abläuft. [..] Draußen unter dem freien Himmel, im Rauschen des Waldes, gleitet Hast und Unruhe von ihnen ab.“ Horst Siewert, 1937

Für uns war in jedem Fall klar, dass es mit einem längeren Aufenthalt in der Schorfheide nicht getan wäre. Möglichst weit weg wollten wir, vor allem gefühlt. Mikronesien zum Beispiel stand auf unserer Liste potentieller Kandidaten, genauso wie Kanada, Mongolei und Neukaledonien. Auf den ersten Blick allesamt sehr verschieden. Auf unsere Bedürfnisse bezogen jedoch nicht.

Also machten wir Nägel mit Köpfen und kündigten auf Arbeit eine dreimonatige Auszeit an. In der Schule beantragten wir die zeitweise Schulbefreiung für unsere Jungs – drei Wochen vor den großen Sommerferien, eine danach – die uns auch bewilligt wurde. Alles sah gut aus und nahm langsam Form an. Wie aufregend.

Und dann kam Corona.

Corona erfasste auf die eine oder andere Weise so viele Länder und Menschen, wie kaum ein Ereignis je zuvor. Corona, beziehungsweise COVID-19, war nicht der erste Erregerausbruch, der sich zu einer Pandemie erwuchs. Aber es war die erste Pandemie mit den Gegebenheiten von heute. Der internationalen Durchlässigkeit wissenschaftlicher Ergebnisse. Der globalen Verbreitungsgeschwindkeit von Sachinformationen und Meinungsmachern über soziale Medien. Der massenhaften internationalen Reiseaufkommen. Der philanthropischen Superreichen. Länder standen plötzlich im Wettstreit miteinander um die effektivste Eindämmungsstrategie und unter enormem innenpolitischen Druck, im Vergleich zu anderen Ländern nichts falsch zu machen. Arbeitgeber standen im Wettbewerb um die größte Mitarbeiterfürsorge. Ausgangssperren schienen das Mittel erster Wahl für die meisten Länder, halfen ein rasantes Ausbreiten des Virus einzudämmen, unterzogen aber auch viele soziale Beziehungen einem enormen Stresstest. Ganze Industriezweige kollabierten übergangsweise. Die Welt übte, lernte erstmals, unter den neuen Gegebenheiten mit einer Pandemie zurecht zu kommen.

Für uns als Familie bedeutete die Corona-Krise neben den Sorgen um unsere Liebsten auch, dass sich unser Leben einmal 180 Grad auf den Kopf stellte. Während ich nach wie vor mit dem Wiederaufbau meiner Firma beschäftigt war, brachen die Umsätze um 80% ein. Bei Anne nahmen am BER die ohnehin straffen Vorbereitungen zur Eröffnung des Flughafens unverhofft nochmals deutlich Fahrt auf. Denn trotz Kurzarbeit vieler ihrer Kollegen (das Flugaufkommen war auf 1% der üblichen Menge implodiert), Homeoffice etc. war ein nochmaliges Verschieben der BER-Eröffnung schon rein politisch ein undenkbares Szenario – Corona hin oder her. Und Anne somit hart am Anschlag Ihrer Kapazität.

Anne also, ihre letzten Projekte Richtung Zielgerade schiebend, und ich, meine Firma durch die Corona-Krise navigierend, alles aus dem Homeoffice versteht sich, hatten plötzlich 2 schulpflichtige Kinder unterschiedlicher Klassenstufen um uns, die ebenfalls straff mit jeweils 4 Stunden am Tag beschult werden sollten, plus Mittagkochen etc. pp. Und dann diese blöden kurzen 24-Stunden-Tage. Ausnahmezustand.

Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich in einer Telefonkonferenz war mit den beiden Geschäftsführern eines potentiellen Kunden, dessen Banker und dem hohen Manager eines Partnerunternehmens. Um mich herum alberten plötzlich unsere Kinder – Hausschule war just fertig. Anne hatte gerade das „Büro“ (aka unser Schlafzimmer, den heiligen Gral unserer Homeoffice-Zeit) belegt, denn ich war bereits zuvor mit diesem Privileg beglückt gewesen. Also musste ich am Küchentisch arbeiten. Als dann noch Spongebob-Schwammkopf laut aus dem Fernseher trötete, und ich kein Wort meiner Konferenzteilnehmer mehr verstand, blieb mir nur die spontane Flucht aus der Küche raus auf die Terrasse. Wir brauchten diesen Auftrag, dringend. Bei dem Raumwechsel durch die dicken Meterwände unseres Altbaus, mitten in der Vertragsverhandlung, verlor mein Handy den Empfang. So stand ich da auf der Terrasse, in Socken, es waren 12 Grad und es hatte frisch geregnet. Mein nutzloses Telefon hielt ich noch immer in der Hand, Wiedereinwahl klappte nicht. Da kam eine liebe Nachbarin vorbei und fing an zu plaudern. Ob das mit Corona nicht alles unglaublich sei. Und dass sie sich schon zu Tode langweilten. Sie hätten den Gartenzaun schon ein zweites Mal gestrichen, langsam gingen ihnen die Ideen aus. Wie gut die Coronazeit ihnen täte, die ganze Entschleunigung und so. Und wie es uns denn eigentlich so ginge. Mein Auge zuckte kurz. Dann ging ich wieder rein. Eine Antwort blieb ich ihr schuldig.

Während also Deutschland gespalten wurde zwischen Burnout und Boreout, machten zusehends die Ländergrenzen dicht. Doch trotz allem, und ein bisschen vielleicht auch gerade wegen alledem, hielten Anne und ich an unseren Reiseplänen fest. Nur das Ziel mussten wir nun anpassen.

Wohin also, wenn mehr und mehr Länder, gerade Transitländer, aus Selbstschutz die Einreise verweigerten? Fernreisen fielen weg. Und das war ein herber Schlag. Die Informationslage war vielleicht nicht chaotisch, aber doch dynamisch, gelinde gesagt. Nichts war sicher, nichts war planbar. Wir alle lernten ja gerade erst auch, was die Folgen der Pandemie für uns alle bedeuten würden, während sie passierten. Für Reiseplanungen allemal erschwerte Bedingungen.

Und dann ein Lichtblick. Schweden, der Punk unter den europäischen Ländern, machte alles anders als die anderen. Schwedens Grenzen waren offen, die Einreise möglich. Als wir dies realisierten, sprang unser Fokus sofort um. Gut, es war nicht Südsee. Aber wie mir jemand sagte fing es auch mit S an. Naja, immerhin. Und so schlecht war der Gedanke doch gar nicht. Wenigstens Ausland. Andere Sprache. Hat Schweden eigentlich Euro? Neh, hat Schweden nicht. Super, auch andere Währung. Dann halt Schweden!

Mit dem Feststehen des neuen Ziels, war der Rest relativ einfach. Arbeit und Schule wussten ja bereits Bescheid. Nun mussten Anne und ich nur noch ToDo-Listen füllen und diese abarbeiten.

Für das Management unserer ToDos nutzen wir Trello, weil es so schön einfach und übersichtlich ist, und man super zusammenarbeiten kann. Aufgabenkärtchen für unsere echten Aufgaben (Familienzelt kaufen, Regenkleidung erneuern, Fähre buchen etc.) und für unsere noch offenen Fragen erhielten uns den notwendigen Überblick. Eine Unterkunft für die ersten zwei Nächte wollten wir uns buchen, den Rest dem Zufall überlassen.

Und das mit den Vorbereitungen klappte auch wunderbar. Häkchen um Häkchen wurden gesetzt. Unser aller Vorfreude wuchs uns wuchs. Sie gab uns die nötige Kraft, die Mehrfachbelastungen zu meistern. Der 31.05.2020 sollte in klassischer Projektplanungsmanier unseren offiziell letzten Arbeitstag markieren (was bei mir nicht ganz so strikt klappen würde, aber dazu später mehr). Gerade rechtzeitig öffnete der Decathlon am Alexanderplatz wieder seine gesamte Verkaufsfläche, sodass wir die letzten Outdoor-Ausrüstungsteile shoppen konnten. Es waren nur noch wenige Tage bis es endlich hieß: Packen für 10 Wochen Schweden.

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