Segerstad auf Öland (18. bis 21.06.2020)
von Reike
Eine hohe Brücke führt uns vom schwedischen Festland hinüber auf die Sonneninsel an Schwedens östlicher Ostseeküste. Bei 16 Grad, Sonne und Sturm erreichen wir Öland. Ein kleiner Infoshop hilft uns dabei, einen ersten Überblick über die Insel zu erlangen.
Wir ziehen vorbei an blühenden Heidelandschaften, deren Vegetationsmix mir sehr eigen erscheint. Da hier fast alles Land in große Parzellen unterteilt ist, schwinden unsere Hoffnungen, unseren ersten wilden Elch zu erblicken, Verkehrsschild hin oder her. Vor allem Anne wünscht sich dies innig.
Das Abenteuer beginnt in jenem Augenblick, da wir die asphaltierte Straße verlassen. Wir kommen an ein Weidetor, welches wir laut AirBnB-Beschreibung passieren müssen. Es wird explizit darum gebeten, das Gatter wieder zu schließen, um die Kühe nicht ausbüchsen zu lassen. Natürlich halten wir uns penibel daran. Es ist erstaunlich, wie einfallsreich die Bauern im Bau improvisierter Gatterverschlüsse sind. Mindestens 10 verschiedene Techniken haben wir bislang bereits kennengelernt.
Der Empfang der Rindviecher kommt prompt. Sie machen uns sofort klar, wer hier Vorfahrt hat.
Ein zweites Gatter gibt den Weg in unsere eigentliche Unterkunft frei. Während Ivo es öffnet, schreckt in Renhuhn aus dem umliegenden Gras auf und zieht im Zickzack meckernd ab. Unsere Hütte ist das Nebengebäude eines Bauernhauses. Die Vermieter bekommen wir nicht zu Gesicht, aber der Schlüssel zur Hütte ist an deren Rückseite in einem kleinen Schlüsselsafe hinterlegt. Ich scrolle ewig durch mein Handy und finde schließlich den passenden Zahlencode.
Die Hütte scheint von außen winzig, ist von innen jedoch sehr gemütlich eingerichtet. Ein solider Blockhüttenbau, dessen Rückseite das 20 Meter entfernte Bauernhaus gekonnt ignoriert, und dessen reifes Gesicht die Weite der hinter einer hüfthohen Steinmauer liegenden Weidelandschaft anstrahlt.
Was die Blockhütte nicht hat, ist eine Toilette. Für sein Geschäft muss die- oder derjenige das muschelige Heim verlassen und einige Meter über den Hof hin zum separaten Klohäuschen überwinden. Dies ist relativ opulent. Leider jedoch empfängt uns hier eine Art Camping-Toilette. In der AirBnB-Anzeige war, etwas versteckt, bereits die Rede von dem auf Öland herrschenden Wassermangel, und dem Umweltbewusstsein der Vermieter, welches schließlich zur Entscheidung führte, hier keine konventionelle Toilette einzubauen. Ich halte das für eine lahme Ausrede und denke, es ist ihnen schlicht zu aufwändig.
Am zweiten Tag lässt der Sturm nach und fast sofort stellen sich dutzende Fliegen und leider auch Mücken ein, die uns tagsüber etwas ärgern und nachts regelrecht quälen. Vor jedem zu Bett gehen muss ich jetzt rund eine Stunde Mücken und Fliegen jagen einplanen. Die Fenster geschlossen halten ist kaum eine Option, denn die Hütte heizt sich unwahrscheinlich auf und gibt nachts stetig wie ein Nachtspeicherofen Wärme ab, sodass die Innentemperaturen nachts bei geschlossenen Türen und Fenstern jene tagsüber bei Weitem übersteigen.
Mit der Ostsee in unmittelbarer Nähe – die Insel ist durchschnittlich um die 10 km breit – sind Strandbesuche vorprogrammiert. Die Temperaturen bleiben um die 15 Grad. Badesachen werden vorsorglich dennoch eingesteckt. Uns begegnen Aufgeblasenes Leimkraut, Winterkresse und die direkt aus einem Adams-Family-Streifen entsprungene Skabiosen-Flockenblume.
Der erste „Strand“ ist zum Baden gänzlich ungeeignet. Kalkstein bildet den Bodensockel und erwächst sich bis weit ins Wasser hinein, bleibt dabei jedoch so flach, dass selbst viele Meter landabwärts die Tiefe keinen Meter erreicht. So flacher, unter Wasser liegender Stein ist natürlich von unendlichen Muschelfragmenten überwuchert und diese von einer dünnen Schleimschicht aus grünen, grauen und braunen Algen abgedeckt.
Jeder Badeversuch ist zwecklos. Wir verbringen dennoch einige Zeit hier, gehen die Küstenlinie ab und finden dabei eine Vielzahl schöner Fossilien.
Wir genießen die Luft, weil uns die frische Brise Luft in Mund und Nase weht, die für Anne und mich nach Heimat schmeckt. Unsere Jungs sind, wie soll es anders sein, etwas enttäuscht darüber, dass wir sie nicht baden lassen.
Am nächsten Tag wagen wir einen erneuten Versuch, badegeeignete Ostseestrandabschnitte zu spotten. Mit einer großen Ladung selbst gebackener Brötchen auf der Mittelkonsole schwingen wir uns ins Auto und ziehen los.
Seit Wochen freuen Anne und ich uns diebisch über unser Glück, dass unsere Reise genau auf das Midsommar – dem schwedischen Fest zur Mittwommerwende fällt. Es wird an jenem Samstag gefeiert, welches jeweils zwischen den 20. und 26. Juni fällt. Dazu gehört auch noch der Vorabend, der Midsommar-Abend. Wir stellen es uns urromantisch vor und irgendwie .. sehr schwedisch. Je näher es rückt, je mehr realisieren wir, dass die aktuell noch kursierende Corona-Pandemie mit seinen auch in Schweden geltenden Versammlungsverboten ein klassisches Midsommar wohl unwahrscheinlich machen würden. Viele Veranstaltungen sind auch hierzu Lande bereits abgesagt worden, viele Einrichtungen haben geschlossen, manche vom Tourismus lebenden wohl für immer.
Am Midsommar-Abend legen wir uns alle vier traditionsbewusst ein Sträußchen aus 7 verschiedenen Blumen unters Kissen. Unsere Vermieterin begrüßt uns nun erstmals persönlich und fragt uns, ob sie ihre, genau genommen auf unserem Feriengrundstücksteil stehende, schwedische Fahne hissen dürfe, schließlich sei Midsommar. Als wir am nächsten Tag, dem eigentlichen Midsommar-Tag, quer über die Insel kurven um uns einem x-beliebigen Midsommar-Festchen anzuschließen, stellen wir ernüchtert fest, dass wir überhaupt gar keine Menschen sehen. Gar keine. Den ganzen Tag nicht. Nirgends auf Öland. Von einem Fest ganz zu schweigen. Dass wir Midsommar verpassen, stimmt uns traurig. Cronona-Jahr 2020 halt.
Eigentlich wollten wir auf Öland viele, ausgedehnte Fahrradtouren unternehmen. Leider haben wir uns bei den Entfernungen doch etwas verschätzt. Das Straßennetz der 137km langen Insel ist dünn. Knotenpunkte kommen nur alle +-7km. Immer wieder kommt und verschwindet starker Wind. Die kürzeste und auch ziemlich langweilige Rundtour wäre 40km lang – wir trauen uns derzeit nur etwa 30km zu. Interessante Ziele sind weiter weg.
Früher war die Insel Heimat zig tausender Weiderinder. Seit mehr als 2.000 Jahren wird Öland bereits hierzu genutzt. Das besondere Zusammenspiel aus Mensch, Weidevieh und Natur hat auch die hiesige Flora maßgeblich geprägt. Zur letzten Jahrtausendwende schließlich wurde Südöland sogar zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
Auf einer teils nur wenige Milimeter dünnen Humusschicht über dem Kalkstein finden sich nicht nur Sonnenkraut und verschiedene Formen von Knabenkraut, Moor-Blaugras und Lein. Es finden sich auch ausgedehnte Felder mit Strand-Tausendgüldenkraut, Mehlprimel und Stranddiestel, mit Färber-Waid, Strandaster und Teufelsabbiss. Gelegentlich finden sich Ackersenf, Schwarzwurzeln, Glocken- und Wucherblumen.
Besonders bewundere ich die aufwendigen Blüten des Natternkopfes.
Unser Ziel, schöne Badestrände zu finden, haben wir nicht erreicht. Einer war durchaus schön anzuschauen, aber die verwesenden Massen angespülter Algen haben mit ihrer kaum erträglichen Abluft jede Berliner Kanalisation wegbossen können.
Wir kehren zur Unterkunft zurück, etwas betrübt, dass die Badehosen trocken bleiben musste, aber dennoch angenehm erschöpft von soviel Frischluft. Der Rückweg führt uns an riesigen Grabfeldern aus der Steinzeit vorbei. Wir sind schon zu müde, um anzuhalten und diese näher zu erkunden.
Unterdessen wird uns die Camping-Toilette zur Qual. Wir pflegen gerne ein Selbstbild, welches uns sehr entspannt und tolerant zeigt. Wiederkehrende Anflüge von Unwohlsein bezüglich der Hygienesituation in dieser Unterkunft, welche die Camping-Toilette so mit sich bringt, können wir jedoch kaum ignorieren und entwickeln zunächst ansteigendes Unverständnis und schließlich auch Frust, welches uns den Charme der Unterkunft etwas vermiest.
Unsere eindeutige Erkenntnis ist, dass Camping-Toiletten in Fremdenverkehrseinrichtungen völlig ungeeignet sind. Nicht nur kommen viele mit dem Bedienkonzept schlecht zurecht und die Schamgrenze zu fragen muss erst einmal überwunden werden. Vielmehr ist es unheimlich schwer, den Toilettenkörper selbst rein zu halten. Zumal dieser hier in seiner konstruktiven Auslegung deutlich zu klein dimensioniert ist. Und wenn, wie in unserem Fall, nicht einmal der Auffangbehälter zwischen den Gästewechseln entleert wird, dann stellt sich schnell eine schwer zu ertragende Situation ein. Wir versuchen diesen Zustand mit der Vermutung zu entschuldigen, dass die Vermieter das Gehöft soeben erst erworben haben, es derzeit herrichten, sich mit der Vermietung der Blockhütte übernehmen.
Der nächste Morgen beginnt mit einem ausgiebigen Frühstück. Auf der Wiese vor der Blockhütte wächst ein Hexenring aus Nelkenschwindlingen. Diese erstaunlichen kleinen Pilze kommen oft massenhaft vor, trocknen bei anhaltender Trockenheit fast vollständig ein, können jedoch bei dann einsetzendem Regen ihr Wachstum fortsetzen, als wäre nix gewesen.
Gut gestärkt unternehmen wir einen letzten Versuch, geeignete Badeorte zu finden. Einen dringend nötigen Einkaufsversuch mussten wir zuvor abbrechen, denn der bei Google eingezeichnete, einzige Supermarkt im Umkreis von 30 Kilometer hat für immer geschlossen.
Unsere Suche nach Stränden lässt uns oft anhalten, nie jedoch mit dem gewünschten Erfolg. Dafür können wir Kartoffelfelder aus der Nähe bestaunen und freuen uns, dass wir so spielerisch das nächste Arbeitsblatt von Nantes Hausschule abhaken können.
Auch heute werden wir nicht fündig, was die Suche nach geeigneten Badestellen angeht. Insgesamt ist aus unserer Vorstellung, auf Öland den ganzen Tag in der Ostsee zu verbringen, nichts geworden. An so vielen Stellen unserer Reise hatten wir zuvor, angeheizt durch das omnipräsente Regionalmarketing Ölands, überzogene Vorstellungen von der Schönheit des Eilands entwickelt. Nun, da wir hier sind, erscheint uns die Insel karg und leer.
Zumindest bringen wir einen Hut voll Hollunderblüten mit zurück in unsere Blockhütte. Frisch angesetzte Hollunderbrause wird uns das Packen unserer Klamotten versüßen. Es fällt uns leichter als sonst, den Ort zu verlassen und wir können den nächsten Morgen kaum erwarten, dessen Sonnenlauf uns zum nächsten Abenteuer mitnehmen wird.