Eine Nacht im Gefängnis (21.-22.06.2020)
von Reike
Eigentlich hatten wir geplant, morgen in das Küstenstädtchen Västervik weiter zu ziehen. Die monatelange Corona-Isolation vor Abreise steckt uns noch tief in den Knochen und auch hier in Schweden meiden wir weiter bewusst Menschen. Diese Isolation bedeutet für viele Menschen eine nur schwer tragbare emotionale Belastung. Ich denke sehr oft daran, wie unterschiedlich das Social-Distancing die Menschen betrifft und trifft. Darüber, wie normal für die einen dieser Isolationszustand auch vor Corona bereits war – gewollt oder ungewollt. Darüber, wie schwer die Isolation derzeit vor allem für bestimmte Gruppen von Menschen sein muss – für solche, die auf fremde Hilfe angewiesen sind. Für solche, die unter psychischen Krankheiten leiden, wie Depressionen, bipolare Störungen oder Angststörungen. Für Singles. Für Teenager.
Uns geht es mit all der Isolation sicher verhältnismäßig gut. Wir haben uns vier, und das bedeutet eine Menge Abwechslung. Dennoch fehlt uns was. Anne möchte unbedingt wieder unter Menschen. Anderen Menschen. Ich habe uns deshalb eine superschöne Wohnung in der weiter nördlich liegenden Stadt Västervik gebucht.
Am Morgen der Weiterreise bekomme ich eine AirBnB-Nachricht von unserer Gastgeberin. Auf Grund eigener gesundheitlicher Probleme muss sie unseren Aufenthalt bedauerlicher Weise absagen. Mist!
Und nun? Ich suche, aber die Zeit ist knapp, es gibt praktisch keine weiteren Städte in Reichweite, die in unter 5+ Stunden Fahrt erreichbar wären. Wir machen uns auf die Reise nach Västervik und hoffen, dass sich unterwegs was ergibt, wie wir es schon so oft zuvor gemacht haben.
Wir fahren durch eine zunehmend wilder werdende Landschaft, wunderschön, mit zahllosen Seen, tiefem Fichtengrün und gigantischen Felsbrocken, über Schluchten und Täler, mit 90 Km/h auf der schwedischen Autobahn. Leider kann ich nur selten raus schauen. Nach fast zwei Stunden Recherche, Kontaktaufnahmen mit potentiellen Vermietern und gelegentlichen Hitzewallungen habe ich Glück. Jemand nimmt uns für ein paar Tage auf. Das Problem: Wir können die Unterkunft erst ab morgen beziehen.. Wir brauchen also noch etwas für diese Nacht. Kein Problem sagen wir uns, während ich ans Steuer wechsle. Notfalls schlafen wir im Zelt.
Kaum ist dieser Satz ausgesprochen, geht ein Wolkenbruch los. Und was für einer. Wir müssen auf 60 runter bremsen, weil die Sicht immer schlechter wird, dann 40, dann 20.
Also doch nicht Zelten. Schade, unser Camping-Debut in Schweden muss noch warten. Dann eben Hotel. Hotel geht immer für eine Nacht. Wenn in einem Ort mit mehr als einem Hotel nicht gerade Messe ist, findet man immer ein Zimmer. Das ist eine Art physikalische Grundregel, die uns bisher noch nie enttäuscht hat, egal in welchem Land.
Als wir eine Stunde später in Västervik ankommen, hat sich das Unwetter beruhigt. Die Luft duftet noch nach Regel. Kleine Rinnsale plätschern munter die Straßenränder entlang. Die Blätter der Bäume glitzern im durchbrechenden Sonnenschein. Wir gehen von Hotel zu Hotel und werden schon an der dritten Adresse fündig, dem Vestervik Fängelset.
Sieht ein bisschen nach Schule aus, witzeln wir noch in der Außenbetrachtung des rund 100 Meter vor uns liegenden Gebäudes vertieft. Oder Krankenhaus. Oder Knast.
„Wollen Sie das Doppelzimmer mit eigenem WC für 158 EUR die Nacht, oder das Budget-Zimmer für 120 EUR mit geteiltem Badezimmer?“ Wir nehmen das Budget-Zimmer, danke.
Wir schließen die schwere Stahltür auf, die Jungs können sie alleine keinen Zentimeter bewegen. Beim Betreten des Zimmers wird uns klar, was Fängelset bedeutet – wir sind in einem ausrangierten Gefängnis gelandet. Und unser Doppelzimmer ist ein Doppelzelle. Stilecht sind die Fenster noch vergittert. Neben dem „Ehebett“ (wir schieben uns die Pritschen wie immer einfach zusammen) ist noch etwas weniger als ein Quadratmeter Trittfläche. Bei den Jungs lässt bei gleicher Zellengröße das Doppelstockbett etwas großzügigeren Freiraum. Für Taschen ist aber dennoch kein Platz.
Wir erkunden die Gänge der Haftanstalt und machen so manche Entdeckung. Eine besonders große, schwere, mit zahlreichen Schlössern versehende Tür passierend, erzähle ich unseren Jungs, dass hier hinter der einzige der ehemaligen Schwerverbrecher noch immer „wohnt“. Ein schlimmer Finger. Er sei so fürchterlich, so schrecklich, niemand hätte sich je getraut, ihn aus seiner Zelle zu holen. Vierzehn Mal Lebenslänglich, so glaube ich mich zu erinnern. Nein! sagt der eine. Niemals! sagt der andere. Wirklich? fragen beide. Gut, ich mag mich irren, aber ihr könnt ja gucken, ob die Tür verschlossen ist, und falls ja, anklopfen. Ivo klopft schließlich. Nichts rührt sich. Wir gehen weiter. Ein letztes Mal blickt Nante unsicher zurück, zur großen schweren Tür, unsicher, was er von der Geschichte halten soll.
Wir gehen zum Auto und packen alles, was wir für eine Nacht benötigen, in einen Rucksack. Ist ja nicht viel.
Die Jungs haben einen Raum mit Dartscheiben entdeckt, müssen aber noch warten. Denn zuerst wollen wir eine kleine Ströperrunder in der näheren Umgebung machen. Noch schnell mit Trockenshampoo die Haare waschen und los gehts.
Wir haben Hunger und beschließen heute einen drauf zu machen. Bei der Wahl des Restaurants können wir uns nicht einigen. Ivo möchte Döner. Nante möchte Burger. Anne möchte schick. Reike möchte aufhören zu reden und essen.
Wir entscheiden uns fürs Pinchos auf einer der Hauptstraßen im kleinen Zentrum, welches uns etwas ans Berliner Transit erinnert, und kaufen Ivo vorher einen Kebab, denn der will hier partout nichts finden. Unsere Entscheidung stellt sich als ausgezeichnet heraus. Die Drinks sind imposant (vor allem bunt), das in Tapas servierte Essen verströmt einen äußerst Appetit anregenden Mix aus exotischen Düften.
Selbst der Kleinste von uns ist schier begeistert über seine Wahl: Burger mit ohne alles.
„Nach dem Essen sollst Du ruh’n, oder Tausend Schritte tun!“ Jetzt ist ein Verdauungsspaziergang genau das Richtige für uns. Eine schöne Kirche präsentiert sich anmutig auf einer Anhöhe. Wir gehen hinein. Innen empfängt uns eine für europäische Kirchen ungewöhnlich warme Stimmung. Zwei Kirchdiener, ein Junge und eine Mädchen von jeweils vielleicht 14 Jahren, sind mit irgendwelchen Vorbereitungen beschäftigt und bitten uns herzlich rein, bevor sie sich wieder ihren eigenen Plänen zuwenden.
Direkt zwischen den gepolsterten Sitzreihen und der Kanzel ist eine Art Kinderland aufgebaut, mit Plüschbällen und allem drum und dran. Das beschäftigt zum einen unsere Kids und gibt Anne und mir zum anderen Zeit, ungestört über die Prächtigkeit dieses Gotteshauses zu staunen.
Ich zünde zwei Kerzen an. Eine für meinen erst kürzlich verschiedenen Großvater, dessen Tod ich noch immer betrauere, und eine für meine Großmutter, die bereits viele Jahre vorher verstarb. Ich denke an die Güte der beiden, ihren Humor, und welchen Reichtum an Erinnerung sie mir hinterlassen haben, und erlaube mir den romantischen Gedanken, dass beide nun irgendwo wieder vereint sein können.
Am nächsten morgen genießen wir das Hotel-Frühstück als eine willkommene Abwechslung. Alles ist sehr liebevoll arrangiert. Wir unterhalten uns mit der Familie am Nebentisch – endlich Austausch mit anderen Erwachsenen. Ein nettes Paar mit seinen drei Kindern. Sie Finnin, er Österreicher. Zusammen wohnen sie an der schwedischen Westküste, von der sie uns vorschwärmen. Wenn es uns dort hin verschlägt, sollen wir unbedingt anrufen. Wir freuen uns über soviel Herzlichkeit. Die Jungs haben längst aufgefrühstückt und sich klamm heimlich vom Tisch geschlichen. Richtung Dartraum nehme ich an und werde kurze Zeit später bestätigt. Die Abreise gestaltet sich diesmal denkbar einfach.
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