Yxningen hält uns fest Teil I (27.06. bis 11.07.2020)
von Reike
Wir sind froh, den Yxningen noch nicht verlassen zu müssen. Nach drei Nächten auf dem nahegelegenen Zeltplatz haben wir das Glück, bei Susanne und Tor auf ihrer Farm Vikarebo Gård unterzukommen. Zunächst für eine Woche. Für eine weitere Woche müssten wir in die daneben liegende Ferienwohnung umziehen. Wir lassen das für uns zunächst offen, werden uns später jedoch entscheiden zu verlängern.
Vikarebo Gård, das Landgut, auf dem wir nun für zwei Wochen wohnen werden, ist ein Relikt des späten 20. Jahrhunderts. Ein neureicher Industrieller hatte damals, in völligem Überfluss lebend, ein Faible für Zuchthengste entwickelt und auf diesem Fleckchen Erde kurzerhand seinen Zuchtbetrieb gegründet. Die rassigen Rennpferde kamen bald darauf zu internationalen Ruhm.
Auf gut 600 Hektar (6 Quadratkilometer) florierten Zucht und Ausbildung erlesener Araber. Bis dem Reichen alles zu viel wurde. Er teilte das Land und stieß es ab. Der Finne Tor traf erst kurz zuvor seine Jugendliebe Susanne wieder. Zusammen kaufen sie den „Farmteil“ der Ländereien samt Haupthaus und einigen Nebengebäuden, aber nur einen kleinen Teil der umliegenden Wälder, sowie zwei winzige, dem Seeufer vorgelagerte Inselchen: Mallorca und Menorca.
Tor und Susanne wuchsen auf dem Land auf, hatten jedoch keine Ahnung, wie man eine eigene Farm betreibt. Was die beiden jedoch gemein haben, ist Tatendrang und Mut und Experimentierfreude. „Susanne hat gestern mit dem Traktor das Gras gemäht und wendet es gerade zum Trocknen, habt Ihr sie gesehen? Morgen zeigt uns ein Nachbar, wie man daraus Strohballen formt.“ Das waren so ziemlich die ersten Worte, die wir mit Tor wechselten. Fast alles machen sie derzeit zum ersten Mal. Und freuen sich darüber, soviel zu lernen. „Eine tolle Gelegenheit, sich mit den Nachbarn anzufreunden.“ freut sich Tor. Wofür sie das Heu brauchen, fragt Anne. „Na, für die Schafe.“ sagt Susanne, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres. „20 Stück habe ich. Ich kenne jedes mit Namen. Ich liebe meine Babies.“.
Wir beziehen das Farmhaus aus dem frühen 19. Jahrhundert, dessen Geschichte schon lange vor der Pferdezucht begann und lassen uns sofort von seinem Charme vereinnahmen. Der historische Holzherd in der Küche wird ergänzt durch moderne Geräte, ohne dass sich beides stört. Liebevoll restaurierte Holzfenster und Türen im ganzen Haus blicken umliegend auf die Felder und den angrenzenden Wald.
Unsere nackten Füße genießen das Gefühl, welches der matte Fichtenholzboden, auf dem sie wandeln, in ihnen auslöst. Susanne, die nach einem schweren Unfall in frühen Erwachsenenjahren mit komplizierter Halswirbelverletzung ihren Versicherungsfachfraujob an den Nagel hing, eine Umschulung zur Innenausstatterin machte, aber seither für sich allein lebte, hat in jedem Winkel des Hauses besten Geschmack bewiesen. Seid die beiden ein Paar sind, ist sie für die Einrichtung verantwortlich. Teils sind die schönen, antiken Möbelstücke so gekauft, größtenteils jedoch selbst aufbereitet. Alles wirkt wie aus einem Guss.
Der Blick aus dem Haupteingang gleitet über die welligen Wiesen, welche sich vom Haus aus bis hinunter zum 300 Meter entfernten See vor uns ausrollen. Margeriten, wilde Erdbeeren und Klee flankieren den Pfad zu beiden Seiten. Wir werden diesen Weg häufig rauf und runter gehen und am Ende werden keine wilden Erdbeeren mehr übrig sein.
Unten am See erwartet uns eine hölzerne Plattform mit Badeleiter. Die Wassertiefe würde Kopfsprünge erlauben, aber dort wächst vereinzelt Leichkraut und das ist den Jungs unheimlich. Ich will mir eine Taucherbrille besorgen, dann schneide ich die Stränge mit einem Küchenmesser ab und mache somit die Bahn frei.
Die Jungs müssen sich dafür von Tor die Erlaubnis holen, das ist der Deal. Sie sollen lernen, respektvoll mit dem Eigentum anderer umzugehen und Verantwortung für ihre Wünsche zu übernehmen.
Wir beschließen, die nähere Umgebung zu erkunden. In der Wander-App Komoot lege ich eine neue Wanderung an. 7 Kilometer sind geplant. Nach nur zweien zieht ein wütender Regenschauer über das Land und überrascht uns jäh.
Wir stellen uns unter eine junge Eiche, die zumindest den ein oder anderen Tropfen abhält. Da wir alle regenfeste Outdoor-Klamotten tragen, stört uns der Regen aber nicht wirklich. Die Jungs graben unterdessen nach Gold, mit steinpickelförmigen Stöckern und Piken.
Die Husche hat sich ausgekippt und keine 30 Sekunden später zwingt uns die Sonne unnachgiebig, uns den Regenjacken zu entledigen. Der Temperaturwechsel ist brutal.
Sonne und Regen gehen in ihrer uralten Fede auf. Schauer jagt sengende Hitze jagd Schauer. Lästig ist höchstens, dass wir Schwitzen dadurch nicht gänzlich vermeiden können, was uns zur leichten Beute für Mücken und Bremsen macht. Dennoch genießen wir den Ausflug.
Die Entdeckung einer alten Trapperhütte mit Elchgeweih über dem Eingang ist Belohnung genug für unsere geringen Strapazen und lässt alle vier Herzen höher schlagen. Sie ist einfach aber zweckmäßig eingerichtet und strahlt eine gewisse Gemütlichkeit aus.
Es tut gut, ein wenig zu wandern, auch wenn wir auf einer Schotterstraße unterwegs und das die Fuß- und Kniegelenke schnell ermüdet. Das Gelände abseits der Straßen ist hier sehr unwegsam. Felsiger Grund und steile Hügel definieren den Waldboden. Da wir auf dem Weg bleiben, bücken wir uns immer wieder, um wilde Erdbeeren oder Steinbeeren, die auch Felsenhimbeeren genannt werden, zu naschen.
Ich liebe die Waldluft nach Regen. Die Gerüche überschlagen sich und sobald sich der Niederschlag verzogen hat, beginnt das geschäftige Treiben der Insekten, welche in Skandinavien einen verhältnismäßig kurzen Sommer haben, als könnte jeder Sonnentag der letzte sein. In Momenten wie diesem möchte ich ausbrechen. Allein in den Wald. Tagelang umherziehen und eins mit der Natur werden. Mich dem Rhythmus der Natur unterwerfen, ihr widerstreben, mit ihr harmonieren. Für heute jedoch genieße ich unseren Ausflug zu viert.
Am nächsten Nachmittag ist es windig aber erstmals seit vier Tagen nicht regnerisch. Das bedeutet, dass Susanne heute mit uns rausfahren wird, um Fischernetze auszubringen. Sie hat das Handwerk von ihrem Vater gelernt, wie der von dessen Vater, und ich freue mich seit Tagen darauf, es heute von Susanne zu lernen. Bevor es losgeht starten wir noch ein „Bohnenexperiment“, denn noch immer ist die Hausschule in vollem Gange und das Experiment steht neben vielen anderen Themen heute auf unserer Liste.
Es geht los! Susanne holt uns vier ab. Die Jungs haben einen Heidenspaß, denn sie dürfen auf dem Quad mit runter zum Boot fahren.
Während Susanne mir am ersten von sechs Netzen zeigt, wie man es von der Lagerwand in Schlaufen auf einen Plastedorn aufnimmt und anschließend auf spezielle Weise eingedreht in der Fischkiste verstaut, zerlegen die Hofhühner neugierig meinen Rucksack. Natürlich haben auch sie alle einen Namen, bei dem sie Susanne liebevoll ruft und neckt.
Die nächsten fünf Netze mache ich. Nicht sicher, ob das nur Hoffnung ist, aber ich denke, ich stelle mich gar nicht so dusslig an. Bei Netz drei witzel ich über mich selbst, dass ich in meinem linken Arm, den ich stetig hoch halten muss, damit sich das Netz nicht im Bodenbewuchs verfängt, spüre, dass ich einen Bürojob habe, weil er langsam schlapp wird. Bei Netz fünf spare ich mir jedes Sprechen und bei Netz sechs bin ich froh, die Aufgabe bewältigt zu haben.
Unten am Boot kommt es zu einer kleinen Verzögerung. Ivo blickt tief ins Uferwasser und rückt währenddessen mit seinem Schuh unbewusst Zentimeter für Zentimeter vor. Er bemerkt nicht, dass die bemooste Rundung des Steins schlüpfrig ist, ehe es bereits zu spät ist. Wir alle lachen herzlich, selbst Ivo, der nun bis zum Bauch im Wasser steht. Anne rettet ihn an einem Seil. Ich kann nicht, ich muss Fotos für die Nachwelt machen. Für Ivo heißt es jetzt, sich in Windeseile umziehen. Ich packe unterdessen mit Susanne das Boot. Fischkisten, Kisten mit Netzen, Treibkörper für die Netze, extra Seile. Dabei kontrollieren wir, ob sämtliche Schwimmbehälter noch lesbar den Namen von Susanne und ihre Fischereilizenznummer tragen, denn Vorschriften gibt es auch im Land der 96.000 Seen.
Auf dem Wasser zeigt mir Susanne beim ersten Netz, wie sie es ausbringt, brieft mich ein letztes Mal zu ihren Lieblingsknoten und bringt das Boot dann vor Mallorca mit gleichmäßigen Zügen in eine parabelförmige Bahn, deren Verlauf nur sie kennt und deren Geheimnisse so tief sind, wie der Yxningen selbst, dessen tiefste Stelle immerhin 85 Meter misst. Bei den Netzen zwei bis sechs übernehme ich. Ein tolles Erlebnis. Ich bin gespannt, ob ich es vermasselt haben werde, oder ob wir morgen beim Einholen der Netze von Erfolg beglückt sein werden.
Am Abend gibt es Roastbeef. Der Braten hat bei 85 Grad mehrere Stunden im Ofen verbracht und sieht richtig lecker aus. Na wenigstens das. Denn er ist zäh, wie eine Schuhsohle, wenngleich durchaus überzeugend im Geschmack.
Ich bin aufgeregt und träume in der folgenden Nacht vermutlich von großen Fischen. Am nächsten Morgen ist endlich wieder Sonne zu sehen, auch wenn das Thermometer auf 15 Grad festzukleben scheint. Sofort gehen die Jungs baden und stärken sich anschließend mit einer bunten Mischung der rund 10 Cerealiensorten, die wir stets im Auto auf unserer Reise mitführen.
Mein Herz pocht in meinen Ohren, als wir uns mit dem Boot abstoßen und zu den Netzen aufmachen. Die Jungs haben keine Lust, mitzukommen und so begleiten nur Anne und ich Susanne.
Sie lässt mich die Netze einholen. Ich muss mich konzentrieren, um die Netze wieder richtig auf die Plastedornen zu fädeln, es am Ende zu entknoten, ohne das nachfolgende Netz dabei zu verlieren und gleichzeitig mit der anderen Hand das nächste Netz aufzunehmen.
Netz eins ist leer, jetzt kommt Netz zwei. Das Netz wird schwerer. Hurrah! Ein stattlicher Barsch kommt zum Vorschein. Ich bin stolz wie Bolle, auch wenn ich gar nicht recht weiß wieso, denn ich habe ja als „Lehrling“ zum Fangerfolg kaum beigetragen.
Im nächsten Netz hat sich ein 80 Zentimeter Hecht mit schöner Zeichnung verfangen. Er hat ein großes Loch in das Netz gerissen. Susanne ist nicht sehr traurig, auch wenn es ihr erstes Netz ist, welches sie noch von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Löcher gehören beim Netzfischen eben dazu. Und ein neues kostet nur umgerechnet 20 Euro. Ich frage mich, ob Susanne tatsächlich so teilnahmslos über den Verlust ihres Netzes ist.
Zurück am Ufer verwerten wir die Fische. Neben kleineren Fischen und Weißfisch sowie dem Hecht und dem größten Barsch sind uns ein weiterer 42 und ein 44 Zentimeter großer Barsch ins Netz gegangen.
Ich mache mich daran, zwei davon zu filettieren, was mir in Deutschland mangels genügend großer Exemplare in der Regel nicht möglich ist. Dabei tauschen Susanne und ich Tricks aus und ich freue mich diebisch, einem so alten Hasen auch noch etwas zeigen zu können. Die Filets kommen in den Gefrierschrank.
Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zu den Fischen, die uns nun für einige Mahlzeiten ernähren werden, zum See, der uns den Fisch übergibt und auch zu Susanne und Tor, die mir zusammen mit meiner Familie dieses Erlebnis ermöglichen.
Die puren Ausmaße des Fisches sind gigantisch. Auf dem Grill wirken die Burger-Patties und das Toast regelrecht verloren gegen den Perca fluviatilis, der kaum auf den riesigen Kugelgrill passt.
Als der Abend ausklingt, sind wir alle satt und ich auf ganz besondere Weise zufrieden.
Am nächsten Vormittag machen wir einen Ausflug ins nahe Valdemarsvik, der Hauptstadt der gleichnamigen Gemeinde. Es fällt uns schwer, ansprechende Fotos zu machen, denn außer einem winzigen Hafenbereich ist der Ort völlig verunstaltet. Wir sind baff, wie ungeschickt sich ein derart schön gelegener Ort bei der Gestaltung des Ortsbilds anstellen kann. Die in die Jahre gekommenen, fensterlosen Rückseiten barackenartiger Gebäude säumen das Hafenbecken. Zwischen Wasser und Wand eingequetscht befindet sich hier und da noch ein ungestalteter Parkplatz. Kein Einkaufsgässchen, geschweige denn eine Flaniermeile, verbinden die mit Geschäften gespickte, nur rund 40 Meter entfernte Hauptstraße und den Hafenbereich.
Es scheint fast so, als hätte Valdemarsvik, das nicht viel größer oder kleiner als Västervik ist, gar nicht erst den Anspruch darauf, schön zu sein. Außer einen lieblosen Verschlag gibt es auch keine zentrale Anlaufstelle für Touristen, um sich über die Optionen zu informieren, welche der Ort und seine Umgebung bieten. Kein ansprechender Prospekt verbindet die Unternehmungslust der Besucher mit der Geschäftstüchtigkeit der hiesigen Geschäfte. Wie gravierend die Unterschiede in der Qualität des Regionalmarketings sein können erleben wir beim Vergleich von Västervik und Valdemarsvik sehr plastisch. Ich finde es interessant und mache mir Gedanken darüber, wie die vorherrschende Mentalität von Ortsgruppen, deren Gemeinschaftssinn, deren Offenheit gegenüber anderen und Neuem und deren Fähigkeit zu Selbstreflexion allesamt Faktoren sind, die zum Gelingen regionaler Wirtschaftsförderung beitragen.
Nachfolgend noch ein paar Eindrücke von unserem schönen Farmhaus, bevor es im nächsten Blog mit Teil II weitergeht.